Landarzt gesucht: Wie Norddeutschland um seine Versorgung kämpft

In Norddeutschlands ländlichen Regionen bleiben immer mehr Hausarztpraxen unbesetzt – der Bedarf wächst, doch es fehlt an Nachwuchs. Demografischer Wandel, Übernahmeprobleme und strukturelle Hürden verschärfen die Lage. Der Artikel beleuchtet Ursachen, Folgen und mögliche Lösungen.

Die medizinische Versorgung durch Hausärztinnen und Hausärzte im ländlichen Norden Deutschlands steht vor gravierenden Problemen. Regionen wie Ostfriesland, ländliche Teile Schleswig-Holsteins und Niedersachsens verzeichnen schon seit Jahren eine abnehmende Zahl von verfügbaren Hausärzten – mit teils dramatischen Versorgungslücken. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und die jeweiligen Landes-KVen melden, dass in Norddeutschland mehrere Hundert Hausarztstellen unbesetzt sind und sich die Lage von Jahr zu Jahr zuspitzt.

In manchen Landkreisen gibt es mittlerweile Versorgungsgrade von nur noch rund 75 Prozent des Sollwertes. Das bedeutet längere Wege für Patienten, längere Wartezeiten für Termine und einen zunehmenden Druck auf die noch verbleibenden Ärztinnen und Ärzte. Die Grundversorgung in vielen Dörfern ist so nicht mehr durchgehend gewährleistet.

Ursachen des Landarztmangels im Norden

Demografischer Wandel und Überalterung

Der Strukturwandel trifft Norddeutschland doppelt: Sowohl die Bevölkerung insgesamt als auch die Ärzteschaft altert rapide. In ländlichen Gebieten ist etwa jeder dritte niedergelassene Hausarzt bereits heute über 60 Jahre alt. Prognosen zeigen, dass dieser Anteil weiter steigen wird und viele Praxen altersbedingt schließen könnten, während der Bedarf durch eine immer älter werdende Bevölkerung weiter wächst.

Arbeits- und Lebensbedingungen auf dem Land

Die Bedingungen für Landärzte gelten als wenig attraktiv. Sie sind häufig „Allrounder“, müssen eine breite Palette medizinischer Probleme bewältigen, leisten viele Bereitschaftsdienste und haben oftmals wenig Aussicht auf Entlastung. Die ländliche Infrastruktur – von Kinderbetreuung bis ÖPNV – ist in vielen Regionen schwach ausgeprägt, was die Lebensbedingungen für angehende Medizinerfamilien erschwert.

Wirtschaftliche und bürokratische Hürden

Die Übernahme oder Neugründung von Praxen ist für junge Ärztinnen und Ärzte mit erheblichen Kosten und Risiken verbunden. Investitionen in Ausstattung, Modernisierung und Verwaltung sind hoch. Hinzu kommt, dass der bürokratische Aufwand mit steigender Dokumentationspflicht kontinuierlich wächst. Viele Ärztinnen und Ärzte empfinden diesen Aspekt als ein Hauptargument gegen die Niederlassung auf dem Land.

Konkurrenz zur Großstadt

Großstadtstandorte bieten Medizinerinnen und Medizinern attraktive Verdienstmöglichkeiten, spezialisierte Arbeitsfelder und besser planbare Arbeitszeiten. Die Konkurrenz durch urbane Regionen ist daher ein weiterer zentraler Grund, warum sich immer weniger junge Ärztinnen und Ärzte für eine Landarztpraxis entscheiden.

Ausbildung und Nachwuchsgewinnung

Studierende und junge Ärztinnen und Ärzte haben oft kaum Berührungspunkte mit der ländlichen Grundversorgung. Landarztpraxen sind nur selten Teil des Medizinstudiums, Praktika finden meist in Kliniken der Städte statt. Versuche, Nachwuchs über Landarztquoten und gezielte Förderungen stärker an die Region zu binden, greifen bisher nur partiell.

Folgen für Patienten und Gemeinden

Lange Wege und eingeschränkter Zugang

Viele Patienten im ländlichen Norden müssen heute oft mehr als 20 Kilometer zum nächsten Hausarzt zurücklegen. Besonders für ältere und chronisch kranke Menschen ohne eigenes Auto wird der Zugang zu medizinischer Versorgung dadurch erheblich erschwert. In Einzelfällen übernimmt sogar bereits der Rettungsdienst Aufgaben der ambulanten Regelversorgung, was zu weiteren Systemüberlastungen beiträgt.

Längere Wartezeiten und Facharztmangel

Durch den zunehmenden Ärztemangel verlängern sich die Wartezeiten auf Termine, auch einfache Anliegen werden zur Geduldsprobe. Die noch praktizierenden Hausärzte können oftmals keine neuen Patienten mehr aufnehmen und priorisieren Akutfälle. Auch die Überweisung an Fachärzte ist zunehmend schwieriger, da auch hier Praxen langfristig überbucht sind.

Sekundäreffekte für Dörfer und Kommunen

Der Wegfall von Hausarztpraxen mindert die Attraktivität ruraler Regionen signifikant. Junge Familien und Rückkehrwillige verlieren einen entscheidenden Standortfaktor, das Dorfleben stirbt schleichend aus. Längere Wege und fehlende Versorgung führen zudem zum Rückgang von Gewerbe und anderen kommunalen Angeboten.

Perspektive der betroffenen Ärztinnen und Ärzte

Alltag und Belastung in unterversorgten Regionen

Hausärzte im ländlichen Raum berichten oft von überdurchschnittlicher Arbeitsbelastung. Sie arbeiten weit über die empfohlene Stundenanzahl hinaus, übernehmen notgedrungen verschiedene medizinische Rollen und müssen vielfach Wochenendarbeit und Bereitschaftsdienste leisten. Nicht selten droht ein Burnout.

Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Viele junge Medizinerinnen und Mediziner empfinden das Lebensmodell des Einzelkämpfers auf dem Land als wenig attraktiv. Die Vereinbarkeit von Familie, Privatleben und Beruf wird als schwierig angesehen, da Teilzeitmodelle und flexible Arbeitsstrukturen fehlen.

Altersstruktur und Nachfolgeproblematik

Angesichts der angespannten Nachfolgesituation blickt eine Mehrheit der Landärzte pessimistisch in die Zukunft. Praxen werden aus Altersgründen aufgegeben, mitunter monatelang nicht nachbesetzt, was den Versorgungsdruck auf verbleibende Praxen weiter erhöht.

Politische und strukturelle Maßnahmen

Landarztquote und Studiengänge

Im Zuge der Landarztquote werden in einigen Bundesländern Medizinstudienplätze bevorzugt an Bewerberinnen und Bewerber vergeben, die sich verpflichten, nach dem Studium für mehrere Jahre in unterversorgten Regionen tätig zu werden. Der Erfolg dieser Maßnahme ist noch nicht abschließend bewertbar. Kritiker bemängeln, sie greife zu kurz und müsse von weiteren strukturellen Reformen begleitet werden.

Finanzielle Förderung, Strukturfonds und Anreize

Neben Zuschüssen für Praxisübernahmen und Neugründungen werden Strukturfonds aufgelegt, um die Niederlassung in der Provinz attraktiver zu machen. In der Praxis zeigt sich, dass solche Anreize wichtige Einstiege bieten, aber nachhaltige Lösungen in der Regel ein Bündel an Maßnahmen erfordern.

Medizinische Versorgungszentren und Filialpraxen

Gemeinschaftspraxen, Medizinische Versorgungszentren (MVZ) und Filialstrukturen sind im Norden im Aufbau, aber bislang vielerorts nur punktuell etabliert. Diese Modelle bündeln Ressourcen und ermöglichen attraktivere Arbeitszeiten. Die Akzeptanz wächst, weiterführende Förderung ist nötig.

Einsatz von Physician Assistants und anderen Gesundheitsberufen

Spezialisierte Gesundheitsberufe, wie Physician Assistants, werden zunehmend zur Entlastung eingesetzt. Erste Projektregionen berichten von reduzierten Wartezeiten und einer Aufwertung der Versorgung. Rechtliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen für diese Entwicklung sind jedoch noch nicht in allen Bundesländern ausdefiniert.

Innovative Ansätze und lokale Initiativen

Telemedizin und digitale Versorgung

Digitale Medizinangebote, wie Videosprechstunden oder Fernüberwachung von Patientendaten, unterstützen gerade in Pilotregionen (z.B. Ostfriesland) die Versorgungssituation. Technischer Ausbau und entsprechende Schulung der Patientinnen und Ärzte sind aber noch nicht flächendeckend umgesetzt.

Regionale Gesundheitszentren

Integrierte Zentren, in denen verschiedene Fachdisziplinen kooperieren, erhöhen die Versorgungssicherheit lokal. Erste Versorgungszentren im Norden werden von Patienten gut angenommen, benötigen jedoch nachhaltige finanzielle Unterstützung und strukturelle Anpassungen.

Social-Media-Kampagnen und kreative Nachwuchswerbung

Kampagnen in sozialen Medien zeigen erste Erfolge bei der Ansprache von Nachwuchsärzten. Best-Practice-Beispiele aus Niedersachsen und Schleswig-Holstein setzen auf Instagram, Youtube und Facebook, um junge Ärztinnen und Ärzte für das Land zu interessieren.

Gemeindliche Kooperationen

Kommunen investieren, teils auch gemeinsam mit lokalen Unternehmen, in Infrastrukturprojekte, Kinderbetreuung und Wohnraum, um die Ansiedlung von Ärzten zu unterstützen.

Ausblick und Forderungen an Politik, Gesellschaft und Berufsstand

Die medizinische Versorgung des ländlichen Nordens steht vor einem grundlegenden Strukturwandel. Einzelne Maßnahmen, wie Landarztquoten oder Förderprogramme, sind wichtige Bausteine, reichen jedoch alleine nicht aus. Gefordert sind attraktivere Arbeitsmodelle (z.B. MVZ, Teilzeit- oder Angestelltenverhältnisse), eine bessere Vergütung für die Grundversorgung, der Ausbau digitaler Infrastruktur und eine neue, flexiblere Berufskultur im Mediziner-Nachwuchs. Gelingt das nicht, drohen wachsende Versorgungslücken und damit nachhaltige gesellschaftliche, demografische und wirtschaftliche Probleme in ohnehin schrumpfenden Regionen.