
Ein drückend heißer Tag im August. Die Sonne brennt auf die Holzplanken der Seebrücke von St. Peter-Ording, wo sich dicht an dicht Touristen drängen. Die Autoschlangen reichen zurück bis zur B 202, Parkplätze sind seit Stunden voll, an den Strandzugängen bilden sich lange Warteschlangen. Während die Urlauber auf das Watt blicken und Möwen über ihnen kreischen, ächzt der Ort unter der Last seiner Beliebtheit. Szenen wie diese haben sich in den vergangenen Jahren in vielen Regionen Schleswig-Holsteins gehäuft – sie stehen sinnbildlich für ein Phänomen, das immer drängender wird: Overtourism.
Der Begriff beschreibt eine Entwicklung, bei der die Zahl der Besucher:innen die infrastrukturellen, ökologischen und sozialen Kapazitäten eines Ortes übersteigt. Was als wirtschaftlicher Erfolg beginnt, kann schnell in Überforderung und Ablehnung umschlagen – bei Einheimischen ebenso wie bei der Umwelt. In Küstenregionen wie Sylt, Fehmarn, Kappeln oder auch entlang der Ostsee zwischen Glücksburg und Hohwacht sind die Auswirkungen inzwischen spürbar.
Doch wie massiv ist das Problem tatsächlich? Und welche Wege gibt es, den Tourismus nachhaltiger zu gestalten, ohne dabei auf die wirtschaftlichen Potenziale zu verzichten? Wie gelingt es, Interessen von Gästen, Kommunen und Bevölkerung in Einklang zu bringen? Dieser Artikel beleuchtet die Lage in Schleswig-Holstein – faktenbasiert, vielstimmig und mit einem besonderen Blick auf die Region Ostseefjord Schlei, wo mit dem Konzept „Grenzen des Wachstums“ ein Modellversuch zur Steuerung des Tourismus gestartet wurde.
Im Folgenden werden das Ausmaß des Overtourism, seine Auswirkungen auf Umwelt, Bevölkerung und Wirtschaft sowie mögliche Gegenmaßnahmen systematisch dargestellt – ergänzt um Zahlen, Studien und Stimmen aus den betroffenen Regionen.
Das Ausmaß des Overtourism
Die touristische Entwicklung in Schleswig-Holstein ist eine Erfolgsgeschichte – zumindest auf den ersten Blick. Mit über 40 Millionen Übernachtungen jährlich gehört das nördlichste Bundesland seit Jahren zu den beliebtesten Reisezielen innerhalb Deutschlands. Besonders die Nord- und Ostseeküste sowie bekannte Orte wie Sylt, St. Peter-Ording oder Fehmarn verzeichnen starke Zuwächse. Doch der Boom hat eine Kehrseite: In vielen Gemeinden geraten Infrastruktur, Natur und soziale Strukturen zunehmend an ihre Belastungsgrenzen.
Besonders deutlich wird das am Beispiel der Region Ostseefjord Schlei. Ein Konzeptgutachten von PROJECT M im Auftrag der Ostseefjord Schlei GmbH kommt zu dem Schluss, dass dort die Wachstumsgrenzen in einigen Teilräumen bereits überschritten seien. Die Zahl der Übernachtungen soll laut Prognose von rund 2,6 Millionen im Jahr 2019 auf etwa 3,2 Millionen im Jahr 2025 steigen – ein Plus von über 23 %. Treiber dieser Entwicklung ist unter anderem das „OstseeResort Olpenitz“ in Kappeln mit einer geplanten Kapazität von 6.500 Betten, das allein für mehr als eine Million Übernachtungen pro Jahr sorgen könnte.
Diese Entwicklung steht exemplarisch für den allgemeinen Trend: Schleswig-Holsteins Küstenregionen erleben seit Jahren ein überproportionales Wachstum im Vergleich zum Landesdurchschnitt. In touristischen Hochburgen wie St. Peter-Ording leben rund 4.000 Menschen, aber es werden jährlich mehr als 2,5 Millionen Übernachtungen gezählt – eine Relation, die Fragen nach Tragfähigkeit und Lebensqualität aufwirft.
Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung noch verstärkt. Während internationale Reiseziele wegfielen, verlagerte sich die Nachfrage auf innerdeutsche Urlaubsregionen. Das PROJECT M-Gutachten spricht von einer „deutlich gestiegenen Nachfrage aus dem Binnenmarkt“, insbesondere in den Segmenten Ferienwohnungen, Wohnmobil- und Campingtourismus. Dabei wurden gerade in der Hauptsaison saisonale Überlastungserscheinungen sichtbar – mit Folgen für Umwelt, Infrastruktur und Tourismusakzeptanz.
Die Problematik lässt sich auch in Zahlen zur Tourismusintensität ausdrücken. Dieser Kennwert beschreibt die Zahl der Übernachtungen pro Einwohner. In einigen Gemeinden Schleswig-Holsteins liegt sie bei mehr als 1.000 Übernachtungen pro Einwohner und Jahr – ein Niveau, das in internationalen Vergleichsstudien als kritisch eingestuft wird.
Auch der Verkehr ist ein zentraler Indikator für die Belastung. Für die Region Ostseefjord Schlei rechnet das Gutachten bis 2025 mit einem Anstieg des Pkw-Verkehrs um 22 %, was rund 4.380 zusätzlichen Fahrten pro Sommertag entspricht – allein durch Übernachtungsgäste. Noch nicht eingerechnet sind dabei die stark wetter- und saisonabhängigen Tagestouristen, die zusätzliche Spitzenbelastungen verursachen.
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Der Tourismus in Schleswig-Holstein wächst – aber nicht überall im Gleichklang mit den Kapazitäten vor Ort. Besonders an Hotspots wie Sylt, Fehmarn oder in Teilen der Schlei-Region droht der Erfolg zur Belastung zu werden.
Auswirkungen auf die Umwelt
Wenn im Hochsommer zehntausende Gäste gleichzeitig an Schleswig-Holsteins Küsten drängen, bleibt das nicht ohne Folgen für Natur und Landschaft. Der Tourismus hinterlässt ökologische Spuren – auf den Stränden, im Wattenmeer, auf Verkehrswegen und zunehmend auch im Hinterland. Die Diskussion um Overtourism ist deshalb nicht nur eine soziale oder wirtschaftliche, sondern immer stärker auch eine ökologische Frage.
Ein besonders augenfälliges Problem ist die Belastung der Küstenlandschaft. In beliebten Orten wie St. Peter-Ording oder auf Sylt kommt es regelmäßig zu Erosion der Dünen, verstärkter Müllbelastung und Trittschäden in Schutzgebieten. Das Wattenmeer, UNESCO-Weltnaturerbe und einzigartiges Ökosystem, ist sensibel gegenüber der starken Frequentierung durch Wattwanderungen, Bootsverkehr und Strandtourismus. Zwar existieren Schutzkonzepte, doch deren Wirksamkeit gerät angesichts steigender Gästezahlen an Grenzen.
In der Region Ostseefjord Schlei zeigt sich exemplarisch, wie sich steigender Tourismus auch auf das Verkehrsaufkommen auswirkt – mit unmittelbaren ökologischen Konsequenzen. Das Konzeptgutachten von PROJECT M prognostiziert bis zum Jahr 2025 einen Zuwachs des Pkw-Verkehrs um 22 %, was etwa 4.380 zusätzlichen Fahrten pro Sommertag entspricht – allein durch Übernachtungsgäste. Insbesondere Engpässe wie die Klappbrücke in Kappeln werden dabei zu neuralgischen Punkten mit Auswirkungen auf Lärm, Abgase und Flächenverbrauch.

Hinzu kommt der Tagestourismus, dessen Dynamik schwer vorhersehbar ist und stark von Wetter und Ferienzeiten abhängt. In der Region werden je nach Saison zusätzliche Verkehrsspitzen erwartet, die die bestehende Infrastruktur überfordern – mit negativen Folgen für Luftqualität, Lärmbelastung und Bodenversiegelung.
Ein weiterer zentraler Aspekt ist der Ressourcenverbrauch: Die Versorgung der Touristen mit Wasser, Energie, Entsorgung und Mobilität erfordert ein hohes Maß an Infrastruktur, das vielerorts ursprünglich nicht für diese Mengen ausgelegt war. Die intensive Nutzung führt zu einem überproportionalen Verbrauch kommunaler Ressourcen, etwa bei der Müllentsorgung oder der Wasserversorgung. In Küstenorten mit begrenztem Versorgungsnetz können Spitzenverbräuche in der Hauptsaison problematisch werden.
Schließlich leidet auch die Flora und Fauna unter der zunehmenden Nutzung: Tiere werden aus Rückzugsgebieten verdrängt, Brutzeiten gestört, seltene Pflanzen zertrampelt. Schutzgebiete wie die Geltinger Birk oder Naturstrände in Schwansen geraten unter Druck – auch durch sogenannte „Wildtouristen“, die abseits offizieller Wege unterwegs sind. Das Gutachten zur Schlei-Region warnt hier vor einer „Beanspruchung der Naturräume“, die sich negativ auf das Markenerlebnis und die Akzeptanz des Tourismus auswirken kann.
Die Region hat auf diese Entwicklungen reagiert: Mit dem Tourismusentwicklungskonzept wurde 2021 die Weichenstellung für eine nachhaltigere Entwicklung vorgenommen. Ziel ist nicht länger ein unbegrenztes Wachstum, sondern eine wertorientierte Entwicklung – unter anderem durch Begrenzung von Beherbergungskapazitäten, gezielte Besucherlenkung und den Ausbau von Angeboten im Umweltverbund, also Bus, Bahn und Fahrrad.
Dennoch bleibt die ökologische Belastung durch den Tourismus ein drängendes Problem. Die Herausforderung besteht darin, den schmalen Grat zwischen wirtschaftlichem Nutzen und ökologischer Tragfähigkeit nicht zu überschreiten – und dabei sowohl Natur als auch Gastfreundschaft dauerhaft zu erhalten.
Auswirkungen auf die Einheimischen
Was für Touristinnen und Touristen Erholung bedeutet, wird für viele Einheimische zur Belastungsprobe. In Schleswig-Holsteins Ferienorten mehren sich die Stimmen jener, die nicht nur vom Tourismus leben, sondern zunehmend unter seinen Nebenwirkungen leiden. Die sozialen Spannungen in besonders gefragten Küstenregionen haben in den letzten Jahren spürbar zugenommen – eine Entwicklung, die auch die Planer des Gutachtens „Grenzen des Wachstums“ im Ostseefjord Schlei deutlich benennen.
Besonders drastisch ist die Lage zum Besipiel in Kappeln, wo das neue OstseeResort Olpenitz nach Fertigstellung über 6.500 Betten umfassen wird. Die Kommune steht dadurch vor enormen Herausforderungen – von Verkehrsproblemen über Infrastrukturbelastungen bis hin zu einem spürbaren „Akzeptanzverlust des Tourismus bei der Bevölkerung“, wie das Gutachten festhält. Der Grund: Die bestehenden Systeme für Mobilität, Abfall, Ruhezeiten und Raumplanung sind vielfach nicht auf solche Mengen ausgerichtet. Hinzu kommt ein Gefühl der Entfremdung: Wenn Ferienwohnungen ortsübliche Mietwohnungen verdrängen und Innenstädte sich auf die Bedürfnisse von Gästen ausrichten, wächst der soziale Graben zwischen Tourismuswirtschaft und lokalem Leben.
Ein häufig benannter Punkt ist der Wohnraummangel. Gerade in besonders beliebten Orten wie Sylt, St. Peter-Ording oder auch Damp werden Mietwohnungen zunehmend an Feriengäste oder Zweitwohnungsbesitzer vergeben. Diese Entwicklung verschärft die Situation für Auszubildende, junge Familien und Beschäftigte in Pflege, Einzelhandel oder Gastronomie. Wer sich das Leben im Tourismusort nicht mehr leisten kann, zieht ins Umland – mit allen Folgen für Pendelverkehre, Vereinsleben und soziale Integration.
Auch die Lebensqualität leidet: In der Hauptsaison beklagen viele Bewohnerinnen und Bewohner Lärm, Müll, Staus und überfüllte Ortskerne. Laut Gutachten führt das in der Schlei-Region zu einer „punktuellen und saisonalen Überlastung“, die sich nicht nur physisch, sondern auch psychologisch auswirkt. Wenn alltägliche Wege länger dauern, Supermärkte überfüllt sind und spontane Freizeitgestaltung kaum möglich ist, entsteht Frust – vor allem dann, wenn die Bevölkerung keine Mitsprache bei touristischen Großprojekten hatte.
Wenn Hauseigentümer Langzeitmietern kündigen und den Wohnraum in Ferienunterkünfte umwandeln, wirkt sich dies negativ auf den Wohnraum und die Mieten aus.
Stefan Borgmann, Geschäftsführer Eckernförde Touristik & Marketing GmbH (auf Anfrage)
Ein weiteres Konfliktfeld ist die kulturelle Entfremdung. In vielen Tourismusorten wird das Angebot zunehmend an den Erwartungen der Gäste ausgerichtet – sei es bei Gastronomie, Veranstaltungen oder Infrastruktur. Dadurch entsteht nicht selten der Eindruck, dass sich Orte in „Themenparks“ verwandeln, in denen das lokale Leben nur noch Kulisse ist. Gerade in kleineren Gemeinden kann das zu einem Verlust von Identität und sozialem Zusammenhalt führen.
Dem begegnen einige Kommunen mit Bürgerdialogen, Beteiligungsprozessen und Tourismusakzeptanzbefragungen – ein Weg, der auch im Gutachten für den Ostseefjord Schlei empfohlen wird. Dort wird betont, dass touristische Entwicklung nur gelingen kann, wenn sie „auf breite Zustimmung in der Bevölkerung“ trifft.
Eine wichtige Rolle spielen zudem lokale Initiativen. In Orten wie Fehmarn oder Glücksburg haben sich Bürgergruppen gegründet, die sich gegen eine ungesteuerte Ausweitung der Ferienwohnungsnutzung oder den Ausverkauf innerörtlicher Grundstücke wenden. Ihre Forderungen reichen von einer besseren Regulierung des Ferienwohnungsmarktes über baurechtliche Begrenzungen bis hin zu Maßnahmen zur Besucherlenkung.
Die zentrale Herausforderung bleibt: Wie lässt sich der wirtschaftliche Nutzen des Tourismus mit dem sozialen Frieden und der Lebensqualität der Einheimischen vereinbaren? Die Antwort darauf wird entscheidend dafür sein, ob Tourismus auch in Zukunft als willkommener Bestandteil regionaler Identität wahrgenommen wird – oder als Belastung, die zunehmend auf Widerstand stößt.
Wirtschaftliche Aspekte
Der Tourismus ist eine tragende Säule der regionalen Wirtschaft in Schleswig-Holstein – daran lässt sich kaum zweifeln. Über 165.000 Beschäftigte arbeiten direkt oder indirekt im Gastgewerbe, bei Dienstleistern oder im Handel. Im Jahr 2022 wurden nach Angaben des Statistikamts Nord rund 40,3 Millionen Übernachtungen in Schleswig-Holstein gezählt – ein Rekordwert, der mit einem Bruttoumsatz von rund 8 Milliarden Euro verbunden ist.
Auch in kleineren Gemeinden sind die ökonomischen Effekte spürbar. Gerade im ländlichen Raum schafft der Tourismus Arbeitsplätze, die sonst kaum vorhanden wären – etwa in der Gastronomie, bei Zulieferbetrieben oder in handwerksnahen Dienstleistungen. Darüber hinaus trägt er zur Finanzierung öffentlicher Infrastruktur bei: Kurtaxen, Parkgebühren und touristische Investitionen verbessern nicht selten die kommunale Haushaltslage.
Im Gutachten zur Region Ostseefjord Schlei wird diese Funktion klar benannt: Der Tourismus sei „entscheidender Standort- und Wirtschaftsmotor“ und leiste „wichtige Kostendeckungsbeiträge für kommunale Infrastrukturen“. Gleichzeitig wird betont, dass er „bedeutender Imageträger für den Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftsstandort“ sei – also weit über kurzfristige Umsätze hinauswirkt.
Doch mit dieser wirtschaftlichen Relevanz geht auch eine wachsende Abhängigkeit einher – und die birgt Risiken. Schon kleinere Rückgänge bei den Gästezahlen, wie sie etwa durch Wetterkapriolen, Inflation oder geopolitische Krisen entstehen können, treffen Regionen mit hohem Tourismusanteil besonders hart. Die Pandemie hat dies drastisch vor Augen geführt. Gleichzeitig ist der Arbeitsmarkt im Tourismussektor anfällig für Fachkräftemangel, hohe Fluktuation und saisonale Schwankungen.
Hinzu kommt eine ungleiche Verteilung der Gewinne: Während Beherbergungsbetriebe, Zweitwohnungsbesitzer und touristische Großinvestoren oft hohe Renditen erzielen, kommen die finanziellen Vorteile nicht immer bei der breiten Bevölkerung an. Vielerorts steigt die Kritik daran, dass Gewinne privatisiert und Lasten – etwa durch Müll, Verkehr oder Mietpreisanstieg – sozialisiert werden. Diese Unwucht kann die gesellschaftliche Akzeptanz gefährden.
Vor diesem Hintergrund rückt das Konzept des nachhaltigen Qualitätstourismus in den Mittelpunkt. In der Schlei-Region etwa wurde 2021 beschlossen, das Wachstum nicht länger über Quantität, also neue Betten oder Flächen, zu erzielen, sondern über eine bessere Auslastung bestehender Kapazitäten. Damit verbunden ist das Ziel, die Wertschöpfung pro Gast zu erhöhen, etwa durch gezielte Investitionen in Service, Ausstattung und Erlebnisqualität.
Ein solcher Paradigmenwechsel erfordert allerdings auch politisches und wirtschaftliches Umdenken – weg vom kurzfristigen Mengendenken, hin zu langfristiger Resilienz. Erste Kommunen versuchen dies umzusetzen, etwa durch gezielte Förderprogramme, Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung und Kooperationen mit Tourismusverbänden. Die zentrale Frage bleibt: Wie kann der Tourismus so gestaltet werden, dass er wirtschaftlich tragfähig, sozial gerecht und ökologisch verantwortungsvoll ist?
Nur wenn alle drei Aspekte zusammengedacht werden, lässt sich ein dauerhaft tragfähiges Modell entwickeln – für Gäste wie für Gastgeber gleichermaßen.
Lösungsansätze und Maßnahmen
Die Diagnose ist klar: In vielen Regionen Schleswig-Holsteins stößt der Tourismus an Belastungsgrenzen. Doch wie kann man dem entgegenwirken, ohne das wirtschaftliche Fundament zu gefährden? Die Antworten auf diese Frage sind vielfältig – sie reichen von kurzfristigen Verkehrsmaßnahmen bis hin zu langfristigen Strukturkonzepten, die auf einen grundsätzlichen Wandel im Tourismusverständnis zielen.
Im Fokus vieler Gemeinden steht zunächst die Besucherlenkung. Durch digitale Auslastungsanzeigen, verbesserte Informationsangebote und gezielte Kommunikation über Stoßzeiten und Alternativziele sollen Gäste möglichst entzerrt werden – zeitlich wie räumlich. In Kappeln wird etwa über eine Besucherführung entlang alternativer Wege nachgedacht, um das Nadelöhr der Klappbrücke zu entlasten. Auch Parkraummanagementsysteme mit dynamischer Tarifgestaltung gehören zu den erprobten Instrumenten, ebenso wie der Ausbau von Park-and-Ride-Angeboten im Umland.
Eine zentrale Stellschraube ist die Infrastruktur, insbesondere im Bereich nachhaltiger Mobilität. Das Gutachten zur Region Ostseefjord Schlei fordert explizit den Ausbau des sogenannten Umweltverbundes – also von Bus-, Bahn- und Radverkehr – um den zunehmenden Individualverkehr zu verringern. Bis 2025 wird allein durch Übernachtungstouristen ein Anstieg um 22 % an Kfz-Fahrten pro Tag erwartet – mit entsprechenden Belastungen für Natur, Anwohner:innen und das touristische Erlebnis.
Ein weiteres zentrales Instrument sind Kapazitätsgrenzen – also die bewusste Begrenzung von Ferienwohnungen, Hotelbetten und Campingplätzen. Im Konzept „Grenzen des Wachstums“ wird dieses Prinzip erstmals systematisch für eine ganze Region gedacht. Dort wurden konkrete Zielwerte definiert: So soll Kappeln langfristig nicht mehr als 6.500 Betten bereitstellen, die Zahl der Campingplätze soll bei maximal 800 Stellplätzen gedeckelt bleiben. Die Experten schlagen teils sogar einen gezielten Rückbau bestehender Kapazitäten in überlasteten Teilräumen vor – ein bislang in Deutschland kaum ergriffener Schritt.
Parallel dazu wächst das Interesse an nachhaltigen Tourismusmodellen. Konzepte wie „sanfter Tourismus“, „Qualität statt Quantität“ oder „ökologische Regionalmarken“ gewinnen an Bedeutung. In der Schlei-Region wird unter anderem geprüft, wie bestehende Angebote stärker mit Natur- und Kulturerlebnis verbunden werden können – etwa durch Themenrouten, Slow Travel, Bildungsangebote oder lokale Wertschöpfungsketten im Gastgewerbe.
Zur Umsetzung wurde im Rahmen des Gutachtens ein Maßnahmenkatalog mit 44 Empfehlungen entwickelt, darunter 15 prioritäre Schlüsselprojekte. Diese reichen von konkreten baulichen Maßnahmen über Kommunikationsstrategien bis hin zu politischen Reformvorschlägen – etwa in Bezug auf Bauleitplanung, Zweitwohnungsregulierung oder die stärkere Verankerung touristischer Nachhaltigkeitsziele in kommunalen Strategien.
Dabei betonen die Autoren, dass politische Steuerung, interkommunale Zusammenarbeit und einheitliches Regionalmarketing unerlässlich sind. Denn Einzelmaßnahmen allein reichen nicht aus – entscheidend ist eine integrierte Strategie, die Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen einbezieht.
Ein Blick über die Landesgrenzen zeigt, dass Schleswig-Holstein mit diesen Ansätzen nicht allein ist. In Südtirol wurden bereits Gästeobergrenzen eingeführt, in Amsterdam steuert die Stadt das Angebot durch Zweckentfremdungsverbote und eine restriktive Genehmigungspolitik. Auch deutsche Modellregionen wie der Nationalpark Schwarzwald setzen auf klare Zonierungen, Informationslenkung und Angebotsentwicklung im ländlichen Raum.
Was bleibt, ist die Erkenntnis: Nachhaltiger Tourismus entsteht nicht von selbst. Er braucht Planung, Mut zur Begrenzung – und vor allem ein neues Selbstverständnis der Region: als Gastgeberin auf Zeit, die ihre natürlichen und sozialen Ressourcen nicht dem kurzfristigen Gewinn opfert, sondern bewusst schützt.
Perspektiven und Ausblick
Die touristische Entwicklung in Schleswig-Holstein steht an einem Wendepunkt. Die Phase des unbegrenzten Wachstums ist vorbei – nicht nur faktisch, sondern auch strategisch. Die zentrale Frage lautet nicht mehr: Wie viele Gäste können wir noch aufnehmen?, sondern: Wie viel Tourismus ist langfristig verträglich – ökologisch, sozial und wirtschaftlich?
Das Gutachten „Grenzen des Wachstums“ für die Region Ostseefjord Schlei hat diese Debatte systematisiert – und dabei ein Modell skizziert, das weit über die Region hinaus Relevanz hat. Es markiert den Übergang von einer quantitativen zu einer qualitativen Tourismuspolitik. Die vorgeschlagenen Kapazitätsgrenzen, der Fokus auf nachhaltige Mobilität, Besucherlenkung und regionale Kooperation könnten zum Vorbild für andere überlastete Küstenregionen werden.
Doch die Herausforderungen bleiben enorm – und sie werden sich in den kommenden Jahren verschärfen. Der Klimawandel wird nicht nur die natürliche Basis des Tourismus verändern – etwa durch steigende Meeresspiegel, Hitzewellen oder Veränderungen der Küstenlinien –, sondern auch das Reiseverhalten der Menschen. Längere Saisons, veränderte Mobilitätsbedürfnisse und neue Anforderungen an Infrastruktur und Energieversorgung erfordern adaptive Strategien.
Zugleich verändert der demografische Wandel die Nachfrage: Die Gäste werden älter, individueller, gesundheits- und komfortorientierter. Regionen, die frühzeitig in barrierefreie Angebote, medizinische Infrastruktur oder sanfte Mobilitätslösungen investieren, könnten davon profitieren. Auch neue Zielgruppen – etwa junge, mobile Städter auf der Suche nach Naturerlebnissen – stellen Anforderungen, die weit über die klassische „Strandkorb-Romantik“ hinausgehen.
Ein weiterer Treiber ist die Digitalisierung. Echtzeit-Daten über Auslastung, Verkehrsflüsse oder CO₂-Bilanzen können helfen, Besucherstrom und Infrastruktur besser zu steuern. Gleichzeitig ermöglichen digitale Plattformen neue Formen des Marketings und der Bürgerbeteiligung. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass Kommunen die nötigen Kompetenzen und Ressourcen erhalten – und den Mut haben, ihre Planungsinstrumente an die digitale Realität anzupassen.
Zukunftsfähiger Tourismus braucht daher nicht nur neue Technik, sondern vor allem eine neue Haltung: Tourismus als gestaltbare gesellschaftliche Aufgabe, nicht als bloßes Marktgeschehen. Es braucht klare politische Vorgaben, transparente Zieldefinitionen und eine konsequente Einbindung der Bevölkerung. Die Gemeinden entlang der Schlei zeigen, dass es möglich ist – wenn man bereit ist, unbequeme Fragen zu stellen und echte Antworten zu geben.
Was heute noch als Einschränkung erscheinen mag – Begrenzung von Betten, Regulierung von Verkehrsströmen, Kontrolle des Ferienwohnungsmarkts – könnte sich morgen als Voraussetzung dafür erweisen, dass Schleswig-Holstein ein attraktiver Lebens- und Urlaubsraum bleibt: für Gäste wie für Einheimische.
Was bleibt
Die Tourismusregionen in Schleswig-Holstein stehen an einem Scheideweg. Was lange als Wachstumsmotor gefeiert wurde, entpuppt sich zunehmend als systemische Herausforderung. Overtourism ist kein Randphänomen mehr, sondern in Orten wie Kappeln, St. Peter-Ording oder auf Sylt ein zentraler Faktor für Umweltbelastung, soziale Spannungen und strukturelle Überforderung.
Die Analysen und Prognosen aus der Region Ostseefjord Schlei zeigen exemplarisch, wie stark die Auswirkungen sein können – und wie dringend eine Kurskorrektur nötig ist. Die Frage ist längst nicht mehr, ob gesteuert werden muss, sondern wie – und mit welchem politischen Willen. Das erfordert Mut zur Begrenzung, langfristige Planung und die Fähigkeit, wirtschaftliche Interessen mit ökologischer Vernunft und sozialer Verantwortung in Einklang zu bringen.
Zugleich bietet dieser Moment auch eine Chance: für mehr Qualität statt Quantität, für neue Formen des Miteinanders zwischen Gästen und Einheimischen, für eine Tourismuspolitik, die die Lebensrealitäten vor Ort ernst nimmt. Wenn Schleswig-Holstein diese Chance ergreift, könnte es zum Vorbild werden – für eine Region, die nicht nur Gastgeberin sein will, sondern auch sich selbst treu bleibt.
Interview mit Michelle Dieckmann, Stadt Arnis
Wir haben Michelle Dieckmann, die zweite stellvertretende Bürgermeisterin der Stadt Arnis, per E-Mail interviewt. Ihre Antworten geben wir nachfolgend unverändert wieder.
Werden in lhrer Stadt Probleme im Zusammenhang mit Overtourism wahrgenommen?
Dieckmann: „Jein“ – In den vergangenen Jahren haben wir schon einen erheblichen Anstieg an Touristen während der Sommermonate verzeichnet. Zum einen hat die Corona-Pandemie einen Boom für „Urlaub in Deutschland“ ausgelöst und die Schlei-Region ist durch ein touristisches Modellprojekt bekannt geworden, aber auch die Mobilität vor Ort (eBike-Touristen) führt zu einem Anstieg. Vom klassischen „Overtourism“ können wir hier aber nicht sprechen, es ist nicht so, dass sich hier gedrängte Menschenmassen in den Sommermonaten durch die Straßen schieben. Seitdem Reisen ins Ausland auch wieder problemlos möglich sind und die Fähre in Arnis die letzten zwei Sommer nicht fahren konnte, ist es auch wieder deutlich „ruhiger“ geworden. Eine Herausforderung sind nicht die Gäste, die in Arnis eine Unterkunft beziehen, sondern die Anzahl der Tagesgäste (u.a. durch den massiven Ausbau des Ostseeresorts Olpenitz und den Schleiterassen in Kappeln).
Wenn ja, wie genau äußern sich diese Probleme – etwa in Bezug auf lnfrastruktur, Wohnraum, Umwett oder das soziale Miteinander?
Dieckmann: Probleme die mit hohen Besucherzahlen in den Sommermonaten einhergehen, sind beispielsweise der hohe Durchsatz an Hundekotbeuteln, die die Stadt kostenlos zur Verfügung stellt (finanzielle Auswirkungen), es landet auch rechts und links vom Weg Müll und es kann zu Konflikten zwischen Radfahrern und Fußgängern auf dem geteilten Rad-Wanderweg kommen. Wenn unser Besucherparkplatz voll ist, parken Autos auf der Zufahrtsstraße am Straßenrand und behindern so den Verkehrsfluss.
Es gibt zwar auch einige Ferienwohnungen und Zweitwohnsitze in Arnis, aber erhebliche Auswirkungen auf das soziale Miteinander hat es bisher noch nicht, da das Maß noch nicht überschritten ist. Es muss ja auch so betrachtet werden, dass es eine touristische Region ist und viele Menschen mit dem Tourismus ihren Lebensunterhalt verdienen.
Welche Maßnahmen wurden bereits ergriffen oder sind in Planung, um mit diesen Herausforderungen umzugehen?
Dieckmann: Die Stadtvertretung ist gerade dabei einen Bebauungsplan für einen Großteil von Arnis aufzustellen, in dem auch geregelt ist, wie hoch der Anteil von Ferienwohnungen auf einem Grundstück sein darf, damit hier in Zukunft das Maß nicht überschritten wird. Bisher ist der B-Plan noch nicht abgeschlossen.
Zudem gibt es den Austausch mit der regionalen Tourismusorganisation, die das Konzept „Grenzen des Wachstums“ erstellt hat und auch auf Bewerbung Angebote in der „2. Reihe“ setzt.
Welche Bedeutung hat der Tourismus wirtschaftlich für lhre Kommune?
Dieckmann: Der Tourismus hat schon eine wichtige Rolle für Arnis. Zum einen generieren wir Einnahmen über den Besucherparkplatz (mit Parkgebühren), zum anderen profitieren wir von der Gewerbesteuer der Unternehmen vor Ort, die vom Tourismus leben.
Gibt es saisonale Belastungsspitzen, und wie wird diesen begegnet?
Dieckmann: Ja, die Sommermonate (Juni, Juli August) sind die Hauptreisezeit. Es werden keine besonderen Maßnahmen ergriffen.
Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung gegenüber dem Tourismus – wird er überwiegend positiv oder zunehmend kritisch wahrgenommen?
Dieckmann: Es ist eine zwiespältige Stimmung. Viele Menschen verdienen mit dem Tourismus ihren Lebensunterhalt, aber natürlich sind einige auch davon genervt, wenn ihre Haustür zum 100x am Tag fotografiert wird oder ein Fahrradfahrer die Straße blockiert.
Gibt es Kooperationen mit anderen Kommunen, dem Land oder touristischen Organisationen, um Lösungen zu entwickeln?
Dieckmann: Ja, mit der Ostseefordschlei GmbH (lokale Tourismusorganisation) – siehe oben.
Welche Ansätze verfolgen Sie im Bereich nachhaltiger oder alternativer Tourismusformen?‘
Dieckmann: Die Schlei Region ist als nachhaltige Reiseregion zertifiziert – als eine der ersten in Schleswig-Holstein. Dies übernimmt die Ostseefjordschlei GmbH. Als eine kleine Stadt mit 270 Einwohnern und einer Stadtvertretung komplett im Ehrenamt, haben wir leider weder die Kapazität noch die Expertise uns darum zu kümmern. Dafür gibt es die Tourismusorganisation, die durch die Kommunen in der Region getragen wird.
Wie schätzen Sie die zukünftige Entwicklung ein – braucht es neue Konzepte, Besucherlenkung oder Obergrenzen?
Dieckmann: Die sind ja bereits entwickelt worden von der Tourismusorganisation und sind nun in der Umsetzung und Weiterentwicklung.
Was wünschen Sie sich von der Landespolitik im Umgang mit dem Tourismus in lhrer Region?
Dieckmann: Die Fähre in Arnis wird ab dieser Saison wieder fahren und hat eine große Bedeutung für den Tourismus hier. Langfristig ist noch keine Lösung für die in die Jahre gekommene Fähre in Sicht. Hier könnte in Zukunft Unterstützung vom Land notwendig sein, um eine Fährverbindung über die Schlei langfristig zu sichern.
Eine Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs könnte die Straßen entlasten – wie gerade im Rahmen des Bundesgeförderten Projekts „Smile24“ in der Schlei-Region getestet wird. Ansonsten beschäftigen uns gerade andere Themen deutlich mehr als der Tourismus (z.B. Bau eines neuen Feuerwehrgerätehauses).